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Ins kalte Wasser geworfen…

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K., *Oktober 2013

 

Wir bekamen die Diagnose im Sommer 2014, da war K.  8 Monate alt. 

Die Untersuchung erfolgte im Frühjahr 2014 im SPZ des nahegelegenen Universitätsklinikums. Dort wollte man das sechs Monate alte Kind aufgrund einer Entwicklungsverzögerung mal unter die Lupe nehme, denn die sogenannten Meilensteine, z. B. „sich auf den Bauch drehen“ oder „nach etwas greifen“ ließen auf sich warten. Zunächst vermutete man vor allem eine Sehstörung. 

Es erfolgte eine Lumbalpunktion unter Narkose, augenärztliche Untersuchungen, Röntgen, usw. 

 

Der Mitarbeiter der Humangenetik teilte uns das Ergebnis der Untersuchung mit: K.  habe das „2q23.1 Mikrodeletionssyndrom“. Hatten wir natürlich noch nie gehört. 

Er teilte uns einige der bisher bekannten Symptome und Merkmale mit und überreichte uns die Broschüre von Unique. Die gebe es bisher nur auf Englisch. Welche Symptome davon auf unser Kind zutreffen oder nicht, würde man mit der Zeit sehen. 

Eine genetische Untersuchung unsererseits lehnten wir erstmal ab, da wir zu diesem Zeitpunkt keinen Sinn darin sahen. 

 

Da stand man nun mit einer Diagnose, einer genetischen Veränderung, einer Krankheit. Was diese beinhalten sollte, konnten wir weder wissen noch erahnen. Wir fühlten uns „ins kalte Wasser geworfen“, irgendwie hilflos, da informationslos. 

Nun musste man sich damit auseinandersetzen oder ignorieren und abwarten. 

Ich begann, die Broschüre zu lesen und bald auch, zu übersetzen. Einfach, damit es einfacher wird, wenn man selbst oder jemand anderes etwas darüber wissen möchte. Viele der für das Syndrom bekannten Symptome trafen zu. 

 

Leider schneller als erwartet kam die nächste Hiobsbotschaft: in der Augenklinik wurde nach einem zusätzlichen Termin mit vielen umfangreichen Untersuchungen eine hochgradige Sehbehinderung festgestellt. Obwohl wir den Eindruck hatten, dass die Frühförderung der Blindenstudienanstalt Marburg schon Erfolg zeigte, sollte das Kind tatsächlich blind sein? Einige Monate später machten wir zusätzlich eine Low-Vision-Beratung (Sehrestberatung) bei der BLISTA. Ergebnis: Sehfähigkeit 10 %. 

 

Zwischen dem zweiten und vierten Lebensjahr waren wir oft in der Klinik. Im Herbst 2014 begannen die Krampfanfälle, auch einen Status Epilepticus mussten wir erleben. Nach der medikamentösen Einstellung folgten „nur“ noch einige Fieberkrämpfe. Dafür kamen regelmäßige Atemwegsinfekte, auch diverse Lungenentzündungen, hinzu. U. a. durch den niedrigen Muskeltonus schaffte er es nicht, richtig zu husten und benötigte häufig Sauerstoff. 

Eine Entfernung der Polypen auf Verdacht, dass die Atemaussetzer sich damit erledigen würden, brachte leider nichts. Aufgrund der (bis heute andauernden) Obstipations-Problematik wurde auch eine Rektoskopie vorgenommen (V. a. Morbus Hirschsprung, der sich aber ebenfalls nicht bestätigte).

Diese Klinikaufenthalte gingen nicht spurlos an uns vorbei. Wir haben fast alle Feiertage einmal dort verbracht. Es brachte enormen Stress und Unruhe in den Familienalltag und wir hofften bei jedem Infekt und Fieberanstieg, dass das Kind nicht am Ende doch wieder stationär aufgenommen werden musste, weil nichts mehr half. Dass wieder ein Zugang in den bereits so zerstochenen und vernarbten Venen gesucht werden musste von Menschen in weißen Kitteln, die er nicht kannte, die ihn festhielten und ihm Angst machten. Dass vielleicht wieder ein Krankenhauskeim den Klinikaufenthalt verlängern würde usw….

 

Zum Glück entspannte sich die Lage nach und nach und die Klinikaufenthalte wurden weniger. 

 

Leider gab es zu jedem Fortschritt meistens auch einen Rückschritt. Zum Beispiel hatte K.  sich (natürlich auch sehr verspätet) endlich auf den Bauch gedreht und es sogar in den Vierfüßlerstand geschafft, so hatte er es nach einer schweren Lungenentzündung leider wieder komplett verlernt und es dauerte ein ganzes Jahr, bis er wieder damit anfing. 

 

Um ihn zu unterstützen und zu fördern bekommt er Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie, Frühförderung. 

 

Er kann durch eine Integrationskraft in den Regelkindergarten im Ort gehen, seit er ein Jahr alt ist. Auch wenn es ihm manchmal zu viel wird mit der Lautstärke und dem Getümmel der vielen Kinder scheint er sich doch wohl zu fühlen und mag seine Erzieherinnen sehr. 

 

Die Liste der Hilfsmittel wird immer länger:

Therapiestuhl, Rehabuggy im Kindergarten und  Rollstuhl unterwegs, Badeliege, Pflegebett, Stehtrainer, NF-Walker. 

 

Aktueller Stand mit 5 ½ Jahren:

 

K.  läuft nicht. 

K.  spricht nicht.

K.  muss getragen und gehoben werden.

K.  kann nicht selbst essen und trinken, außer seine Flasche halten. 

K.  muss gewickelt werden. 

K.  muss gebadet werden.

K.  braucht bei fast allem Hilfe. 

K.  nimmt die Welt um sich herum anders wahr. 

 

Aber, und das sollte viel wichtiger sein: 

 

K.  kann sich im Innenbereich fortbewegen, indem er im Schneidersitz auf dem Po rutscht. 

K.  kann fast frei sitzen.  

K.  lautiert seit einigen Wochen mehr und mehr, probiert herum mit seiner Stimme und mit der Zunge. Es beginnt eine orale Phase, die er so bisher nie hatte (Speichelfluss wird angeregt, Hände und sogar einige Dinge werden zum Mund genommen).

K.  lacht und ist ein fröhliches Kind

K.  versteht einige Worte.

K.  macht sich bemerkbar, wenn etwas nicht stimmt (was genau muss man selbst herausfinden)

K.  mag es, mit Dingen zu experimentieren, die Geräusche machen und Klänge erzeugen. 

K. liebt:

Musik, Gesang, Lichter, silbern glänzende Dinge, Uhren, allgemein runde Dinge, Bücher gemeinsam anschauen, Wasser, Wind, das Licht, das durch die Blätter der Bäume fällt, Vogelgezwitscher und sonstige Tiergeräusche, Babygeschrei, Motor-Knattern, schaukeln, wenn man sich mit ihm im Kreis dreht oder spring, Handys,

das Sandmännchen,…

 

Für jede Familie, die eine Diagnose für eine mehr oder weniger seltene Krankheit bekommt, stellt sich die Welt auf den Kopf. Ungewollt muss man nun neue Wege gehen, die man so nicht geplant hatte.

Unschöne, anstrengende, kräftezehrende und verzweifelte Situationen wird es genügend geben. Wichtig ist, sich damit auseinander zu setzen, um besser damit umgehen zu können. Ob Eltern, Geschwister, Oma und Opa… nehmt euch die Zeit dafür - und nehmt es an.

 

Das geflügelte Wort „Meilensteine“ interessiert uns nicht mehr, oder anders gesagt: wir haben es anders gewertet. Fortschritte kommen bei K nicht nach Zeitplan. Jeder der kommt, ist großartig. Und dennoch wissen wir, dass jede neu erworbene Fähigkeit leider auch wieder verschwinden kann. 

Diese aber zu würdigen und jeden schönen Moment bewusst wahrzunehmen, gibt ganz viel Kraft! 

 

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